Polymorphie
Definition
- Polymorphie bezeichnet die Fähigkeit einer Substanz unterschiedliche
Ordnungszustände, z.B. Kristallmodifikationen im festen Zustand, einzunehmen.
Bemerkungen
Grundlagen
- Einfache Ionen und sehr kleine Moleküle bilden meist ein typisches
Kristallgitter und somit eine charakteristische Kristallmodifikation im
festen Zustand aus.
- Sehr große Moleküle können sich beim Abkühlen und beim Übergang in
den festen Zustand oft nicht mehr komplett in einen festen geordneten
Zustand umlagern, sie bleiben (teilweise) amorph.
- Eine Zwischenform nehmen viele Moleküle mittlerer Molekülmasse ein. Sie
bilden beim Erstarren noch kristalline, also hochgradig geordnete
Strukturen, die jedoch je nach den Bedingungen bei der Auskristallisation zu
unterschiedlichen Kristallgittern führen können. Innerhalb der
verschiedenen Kristallstrukturen sind die möglichen Nebenvalenzen meist nur
teilweise und in unterschiedlicher Art und Weise abgesättigt.
Unterschiedliche Kristallmodifikationen haben somit meist auch eine
unterschiedliche thermodynamische Stabilität bzw. ein unterschiedliches
Energieniveau der Einzelmoleküle.
- Daraus folgen teilweise unterschiedliche physikalische Eigenschaften, die
z.B. folgende Parameter betreffen können:
- Die unterschiedlichen Modifikationen können (müssen aber nicht)
unterschiedlichen Kristallklassen angehören.
- Die Unterschiede verschwinden naturgemäß im flüssigen und gasförmigen
Aggregatzustand, da hier keine regelmäßigen Strukturen mehr vorliegt.
- Ein unterschiedliches, äußeres Erscheinungsbild (Habitus) von
verschiedenen Kristallen einer Substanz ist nicht an eine Polymorphie
gebunden.
- Sind Fremdsubstanzen am Aufbau der verschiedenen kristallographischen
Formen beteiligt (Mischkristallisate), so bezeichnet man diese als
pseudopolymorphe Formen, z.B. Solvate und Hydrate.
- Lassen sich zwei oder mehr polymorphe Formen thermisch reversibel
ineinander umwandeln, so spricht man von enantiotropem Verhalten. Eine nur
in eine Richtung mögliche thermische Umwandlung wird als monotropes
Verhalten bezeichnet.
- Normalerweise bezeichnet man die Modifikation mit dem höchsten
Schmelzpunkt, also der niedrigsten Energie im Kristallgitter selbst, als
Modifikation I. Die polymorphe Form mit dem nächstniedrigeren Schmelzpunkt
heißt dann Modifikation II, die darauf folgende Modifikation III usw.
- Die thermodynamisch stabilste Modifikation hat stets auch den geringsten
Dampfdruck und die
geringste Lösungsgeschwindigkeit.
- Bei vielen Substanzen gibt es eine Temperatur, bei der die bis dahin
thermodynamisch stabilste Modifikation hinsichtlich ihrer Stabilität von
einer anderen abgelöst wird. Diese Temperatur wird
Phasenumwandlungstemperatur genannt.
Folgen und mögliche Probleme
- Wird eine Substanz, die eine solche Phasenumwandlungstemperatur hat auf
thermischem Wege oder durch Kristallisation aus bestimmten Lösungsmitteln
hergestellt, so kann sie sich in einer metastabilen Form abscheiden. Hier
liegt die Substanz z.B. in ihrer Modifikation II im Feststoff vor und ohne
entsprechende Aktivierungsenergie von außen geht sie auch nicht in die
eigentlich stabilere Modifikation I über. Durch Tempern, längeres aber im
Vergleich zum Schmelzpunkt der Substanz meist nur geringes Erwärmen, kann
man diese Energie zuführen und metastabile und stabile Modifikationen
überführen.
- Zahlreiche pharmazeutische Wirkstoffe werden in metastabilen
Modifikationen eingesetzt, teilweise aus Zufall - da sie eben in dieser Form
entwickelt wurden -, vermehrt aber auch gezielt, da metastabile Substanzen
aufgrund ihrer höheren inneren Energie normalerweise schneller löslich
sind.
- Das hat zur Folge, dass die Bioverfügbarkeit eines Arzneimittels von
der enthaltenen Modifikation des Arzneistoffs abhängig sein kann. Die
Polymorphie eines pharmazeutischen Wirkstoffs kann somit Auswirkungen
auf die Sicherheit und Wirksamkeit des Medikaments haben.
- Bei Stabilitätsuntersuchungen - insbesondere unter Stressbedingungen mit
erhöhter Temperatur - kann es zu einem Tempern der Wirkstoffe kommen,
bei dem die ursprünglich ins Produkt eingearbeiteten metastabilen
Modifikationen in thermodynamisch stabilere Modifikationen übergehen.
Beispiele
- Von Chloramphenicolpalmitat sind drei Polymorphe bekannt. Die thermodynamisch stabile Form ist biologisch inaktiv, so dass im Arzneimittel eine metastabile Phase vorliegen muss.
- Ritonavir wurde 1996 zugelassen und auf den Markt gebracht. Etwa ein Jahr nach der Zulassung trat in der
Wirkstoffproduktion überraschend eine neue Kristallmodifikation mit deutlich schlechterer Löslichkeit auf. Die bisher produzierte
Modifikation war nicht länger rein herstellbar und zeigte zudem eine hohe Tendenz, sich in die neue Phase umzuwandeln. Die neue Phase war thermodynamisch stabil, besaß aber eine sehr schlechte Bioverfügbarkeit.
Da eine Herstellung der zugelassenen und bereits vermarkteten Kapseln nicht länger
möglich war, war das Präparat Norvir® daher zunächst nicht
mehr lieferbar. Erst nach über einem Jahr konnte das Präparat mit veränderter
Formulierung wieder auf den Markt gebracht werden.
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