Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW)
Synonym
Definition
- Diejenigen, nicht erwünschten, Wirkungen, die bei einem Arzneimittel
neben der erwünschten, therapeutisch eingesetzten, Hauptwirkung auftreten
können und zu Beschwerden, Krankheiten und in schweren Fällen auch zum
Tode führen können.
Ursachen
Überdosierung
- Durch die Applikation des Arzneistoffs in zu hoher Dosierung, wird
nicht nur die erwünschte Hauptwirkung erreicht, sondern es kommt auch
zu einer Beeinflussung anderer Körperfunktionen.
- Der Abstand zwischen normaler Dosierung und Überdosierung, als
Intervall zwischen dem Eintreten der erwünschten therapeutischen
Wirkung und dem Auftreten toxischer Effekte, wird als
therapeutische
Breite bezeichnet.
- Diese kann patientenspezifisch verändert sein, z.B. bei genetischen
Polymorphismen bestimmter abbauender Enzyme oder einer erhöhten
Rezeptorexpression am Zielorgan.
- Aufgrund einer Überempfindlichkeit bestimmter Körperfunktionen beim
Patienten kommt es bereits bei normaler Dosierung zum Auftreten einer
unerwünschten Wirkung.
- Die wichtigsten diese Art der Ursache bedingenden Gründe liegen in der
genetischen Ausstattung, dem körperlichen Allgemeinzustand und dem
Alter des Patienten.
- So ist die Empfindlichkeit des Atemzentrums gegenüber
Morphin
bei Patienten mit chronischer Lungenerkrankung, bei Neugeborenen
oder unter der Einwirkung anderer atemdepressiver Stoffe deutlich
erhöht.
- Bei Patienten mit genetisch bedingtem
Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel ist z.B. beim Einsatz von
Sulfamethoxazol
bereits bei sonst normaler Dosierung mit einer
Hämolyse
zu rechnen.
- Weitere für eine erhöhte Empfindlichkeit häufig
verantwortliche genetische Ursachen sind:
- Defekt der Pseudocholinesterase
- Hepatische Porphyrie
- Maligne Hyperthermie
- Methämoglobin-Reduktase-Mangel
- Polymorphismen bei Enzymen des Cytochrom-P450-Systems
- Polymorphismus der N-Acetyltransferase ("Langsam-Acetylierer")
- Thiopurin-Methyltransferase-Polymorphismus
- Daneben können mit anderen Pharmaka
Wechselwirkungen
auftreten, die zum Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen
bereits bei sonst unproblematischen Dosierungen führen.
- Der applizierte Arzneistoff wirkt
in diesem Fall nicht nur auf das gewünschte Ziel, sondern auch auf
andere Strukturen. Trotz "richtiger" Dosierung und normaler
Empfindlichkeit können so unerwünschte Effekte auftreten.
- Je nach Zielstruktur des Arzneistoffs kann diese Ursache
unerwünschter Arzneimittelwirkungen mehr oder minder ausgeprägt sein.
- Arzneistoffe, deren Wirkung über bestimmte Rezeptoren vermittelt
wird, zeigen im allgemeinen Wirkungen an allen Organen, die solche
Rezeptoren aufweisen.
- So wirkt Atropin
zwar nur an muscarinischen Acetylcholincholin-Rezeptoren, diese
finden sich jedoch an verschiedenen Organen, so z.B. Lunge,
Herz
und Auge.
- Promethazin
wirkt zwar ebenfalls über die Vermittlung an Rezeptoren, ist
jedoch zusätzlich nicht rezeptorspezifisch. Das Spektrum der
möglichen unerwünschten Wirkungen ist deutlich größer.
- Um diese Effekte zu vermeiden werden unspezifische Arzneistoffe -
wenn möglich - nur lokal verabreicht.
Einteilung
Nach Schweregrad der unerwünschten Reaktion (Seriousness)
- Die Einteilung nach Schweregrad (seriousness) ist insbesondere daher von
Bedeutung, dass sich aus ihr, bei schwerwiegenden Ereignissen, eine
gesetzliche Meldepflicht ergibt.
- Die Unterteilung selbst erfolgt in:
- Schwerwiegende Reaktionen
- Als schwerwiegende Reaktionen gelten solche unerwünschten
Arzneimittelwirkungen, die folgende Konsequenzen haben:
- Tod
- Lebensbedrohliche Situationen
- Bleibende und/oder signifikante Behinderungen
- Kongenitale Schädigungen
- Erforderliche Krankenhauseinweisung bzw. Verlängerung eines
Krankenhausaufenthalts
- Medizinisch bedeutsame Reaktionen
- Gemeint sind hier sämtliche anderen Reaktionen, die eine
medizinische Intervention erfordern, um einen der zuvor
genannten Punkte zu verhindern.
- Nicht-schwerwiegende Reaktionen
- Als nicht-schwerwiegende Reaktionen bezeichnet man alle
unerwünschten Reaktionen, die nicht in den Bereich der
schwerwiegenden Reaktionen fallen.
Nach Stärke der unerwünschten Reaktion (Severity)
- Die Einteilung nach der Stärke (severity) der unerwünschten Reaktion
beinhaltet eine quantitative Aussage über die aufgetretene Reaktion. Die
Einteilung erfolg jedoch eigentlich nur semi-quantitativ, da lediglich
unterschieden wird in:
- Leichte Reaktionen
- Der betroffene Patient fühlt sich aufgrund der aufgetretenen
Reaktion nur gestört.
- Moderate Reaktionen
- Der betroffene Patient fühlt sich aufgrund der aufgetretenen
Reaktion beeinträchtigt.
- Starke Reaktionen
- Der betroffene Patient fühlt sich aufgrund der aufgetretenen
Reaktion behindert.
Nach Häufigkeit der unerwünschten Reaktion
- Bis 2002 galten in Deutschland weniger strenge Grenzen für die einzelnen
Begriffe, die jeweils eine Zehnerpotenz "schwächer" waren.
Im Rahmen der europäischen Harmonisierung gilt die neue Definition seit
2002 europaweit.
- Der Begriff "sehr häufig" wurde mit der Umstellung 2002 neu
eingeführt, der Begriff "in Einzelfällen" soll nicht mehr
verwendet werden, die darunter aufzuführenden extrem seltenen Ereignisse
sollen vielmehr ebenfalls unter "sehr selten" geführt werden.
- Für eine Übergangszeit ergibt sich nunmehr das Problem, dass bei vielen
Angaben, insbesondere aus Lehrbüchern unklar sein wird, welche Definition
der Angabe zugrunde liegt.
- Für die - auch in Packungsbeilagen - angegebenen Formulierungen zur
Häufigkeit des Auftretens einer unerwünschten Arzneimittelwirkung lässt sich
folgende "Umrechnung" verwenden:
- |
- |
> 10 % |
> 10 von 100 |
> 10 % |
> 10 von 100 |
1 - 10 % |
1 - 10 von 100 |
1 - 10 % |
1 - 10 von 100 |
0,1 - 1 % |
1 - 10 von 1.000 |
0,1 - 1 % |
1 - 10 von 1.000 |
0,01 - 0,1 % |
1 - 10 von 10.000 |
0,01 - 0,1 % |
1 - 10 von 10.000 |
< 0,001 - 0,01 % |
< 1 - 10 von 100.000 |
< 0,01 % |
< 10 von 10.000 |
- |
- |
- Eine unerwünschte Arzneimittelwirkung, die erstmals auftritt, also noch
nicht in der behördlichen Produktbeschreibung (SPC = summary of product
characteristics) aufgeführt ist, wird als unerwartetes unerwünschtes
Ereignis bezeichnet. Sie ist unabhängig von Schweregrad und Stärke
meldepflichtig.
Nach pharmakologischen Gesichtspunkten
- Pharmakologisch lässt sich zunächst die von Rawlins vorgeschlagene
Einteilung in vorhersehbare und unvorhersehbare Reaktionen anwenden.
Vorhersehbare unerwünschte Reaktionen lassen sich in dieser Klassifizierung
anhand bekannter Daten des Arzneistoffs und/oder des Patienten mit einer
hohen Wahrscheinlichkeit voraussehen. Unvorhersehbare Reaktionen hingegen
sind nicht durch ein Vorwissen gedeckt, treten also per se erst einmal
(scheinbar) zufällig auf.
- Zu den vorhersehbaren Reaktionen zählen somit insbesondere toxische
Wirkungen, aus dem Wirkmechanismus begründbare pharmakologische
Nebenwirkungen, Interaktionen mit anderen Arzneistoffen, Lebensmitteln etc.,
sowie bekannte genetische Faktoren des Patienten. Allergische Reaktionen
sind hingegen ebenso unvorhersehbare Effekte, wie unbekannte genetische
Faktoren des Patienten hierzu gerechnet werden.
- Neben dieser Einteilung in nur zwei Klassen, wird auch eine Einteilung in
die folgende vier Kategorien verwendet:
- Typ-A-Reaktionen ("augmented", "accentuated")
- Als Typ-A-Reaktionen werden solche unerwünschten
Arzneimittelwirkungen bezeichnet, die im Rahmen der bekannten pharmakologischen
Wirkungsmechanismen des Arzneimittels auftreten. Sie sind
vorhersehbar und meist bereits vor der Markteinführung ausreichend
bekannt.
- Etwa 60 - 80 % aller unerwünschten Arzneimittelwirkungen sind
diesem Typ zurechenbar.
- Typ-A-Reaktionen treten dann auf, wenn die applizierte
Arzneistoffdosis für den individuellen Patienten zu hoch ist, also
eine (individuelle) Überdosierung vorliegt (s.o.).
- Typ-B-Reaktionen ("bizarre")
- Als Typ-B-Reaktionen bezeichnet man solche unerwünschten
Arzneimittelwirkungen, die im Rahmen von
Hypersensitivitätsreaktionen, also z.B. Allergie, Pseudoallergie
oder Idiosynkrasie, auftreten. Sie können gegen den Arzneistoff
oder einen der enthaltenen Hilfsstoffe gerichtet sein und sind
normalerweise nicht vorhersehbar.
- Etwa 10 - 20 % der auftretenden unerwünschten
Arzneimittelwirkungen sind den Typ-B-Reaktionen zuzuordnen.
- Typ-B-Reaktionen fallen zum großen Teil unter die alternative
Definition als Arzneimittelallergie.
- Typ-C-Reaktionen ("chronic")
- Als Typ-C-Reaktionen werden solche unerwünschten
Arzneimittelwirkungen bezeichnet, die erst im Rahmen einer
Langzeitanwendung in Erscheinung treten, also z.B.
Gewöhnungseffekte, chronische Toxizität, Absetzphänomene nach
Langzeitanwendung.
- Typ-D-Reaktionen ("delayed")
- Typ-D-Reaktionen sind definitionsgemäß solche Reaktionen, die
erst mit - z.T. erheblicher - zeitlicher Verzögerung zur Exposition
mit dem auslösenden Agens auftreten bzw. erkennbar werden. Hierzu
zählen vor allem cancerogene, mutagene und teratogene
Eigenschaften.
Risikofaktoren
Allergien
- Typ-B-Reaktionen treten häufiger bei Personen auf, die bereits zuvor
allergische Reaktionen auf unterschiedliche Auslöser gezeigt haben. Auch
bestimmte Autoimmunerkrankungen wie das Sjögren-Syndrom, scheinen das
Auftreten von Typ-B-Reaktionen zu fördern.
- Eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit für das Auftreten wird
Personen mit der sogenannten Vidalschen Trias zugesprochen:
Nasenpolypen, Asthma bronchiale, Acetylsalicylsäure-Intoleranz.
Alter
- Das Risiko für das Auftreten einer unerwünschten Arzneimittelwirkung
steigt scheinbar mit zunehmendem Lebensalter an. Hierbei ist jedoch zu
beachten, dass viele unerwünschte Arzneimittelwirkungen eigentlich nicht
direkt auf das Alter zurückgeführt werden können, sondern durch die im
Alter normalerweise häufigere Polymedikation erst begünstigt werden. Zudem
kommt es aufgrund veränderter physiologischer Funktionen eher zu
Überdosierungen.
- Bei angepasster Dosierung und Beachtung möglicher Interaktionen ist das
Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen im Alter hingegen praktisch
nicht erhöht.
Ausscheidungsstörungen
- Insbesondere bei Typ-A-Reaktionen sind Ausscheidungsstörungen, z.B.
aufgrund einer Leber- oder Niereninsuffizienz, für das Auftreten
unerwünschter Arzneimittelwirkungen aufgrund einer individuellen
Überdosierung prädestiniert.
- Bei entsprechender Dosisanpassung ist häufig das Risiko jedoch auf das
normale Maß zu senken.
Geschlecht
- Frauen scheinen häufiger von unerwünschten Arzneimittelwirkungen
betroffen zu sein als Männer. Als mögliche Gründe werden u.a. die
geringere Körpermasse, die andere Fettverteilung, geschlechtsabhängige
genetische Polymorphismen und hormonelle Einflüsse genannt.
Polymedikation
- Aufgrund der höheren Wahrscheinlichkeit von Arzneimittelinteraktionen
steigt das Risiko für das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen
mit der Anzahl der gleichzeitig angewendeten Arzneimittel an.
Bemerkungen
- Der Begriff der "unerwünschten Arzneimittelwirkung" ist dem
Begriff der "Nebenwirkung" vorzuziehen, da viele Arzneistoffe
neben einer Hauptwirkung auch noch andere Wirkungen aufweisen. Diese müssen
jedoch nicht schlimm sein, sondern werden z.T. ebenfalls therapeutisch
eingesetzt.
- Somit ist der Begriff "Nebenwirkung" nicht als automatisch
schlecht anzusehen, während unter der Kategorie der unerwünschten
Arzneimittelwirkungen nur solche Wirkungen zusammengefasst werden sollten,
die einem therapeutischen Einsatz entgegen stehen können.
- Während das Erkennen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, die auf
einem bekannten Wirkmechanismus des Arzneistoffs beruhen noch relativ leicht
ist, sind Effekte durch noch unbekannte Mechanismen sehr schwer zu erkennen.
- Beispiele für solche, teilweise gravierenden, unerwünschten
Wirkungen sind die Fetalschäden durch Thalidomid,
pulmonaler Hochdruck durch Appetitzügler
oder Fibrosen durch Migräne-Mittel.
- Da auch nach der Zulassung eines Arzneistoffs also noch nicht alle
unerwünschten Wirkungen bekannt sein müssen, kommt es immer wieder dazu,
dass Medikamente
aufgrund von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, die nicht mehr in einem
annehmbaren Nutzen-Risiko-Verhältnis stehen, vom Markt genommen werden.
- Generell sollte vor jeder Anwendung oder Verordnung eines Medikaments eine
Nutzen-Risiko-Abschätzung vorgenommen werden.
Beispiele
Anaphylaktische Reaktionen
Substanzen
Rangfolge nach Berichtsraten 1998-2012
- Moxifloxacin
- Glatiramer
- Levofloxacin
- Clindamycin
- Ciprofloxacin
- Cefuroxim
- Metamizol
- Amoxicillin
- Enalapril
- Ramipril
Flüssigkeitsretention
Arzneistoffgruppen
Substanzen
- Amphotericin B
- Clozapin
- Itraconazol
- Pioglitazon
- Rosiglitazon
Haarausfall
Arzneistoffgruppen
Substanzen
Kardiotoxizität (Herzklappenprobleme)
Substanzen
- Cabergolid
- Dexfenfluramin
- Fenfluramin
- Pergolid
Kardiotoxizität (Kardiomyopathie)
Arzneistoffgruppen
Substanzen
Ototoxizität
Arzneistoffgruppen
Substanzen
Phototoxizität (und erhöhte Lichtempfindlichkeit)
Arzneistoffgruppen
Substanzen
Drogen
- Ammeos visnagae fructus
- Hyperici herba
Schwere Hautreaktionen
Substanzen
Rangfolge nach Berichtsraten 1998-2012
- Clindamycin
- Cotrimoxazol
- Lamotrigin
- Ciprofloxacin
- Phenytoin
- Carbamazepin
- Metamizol
- Methotrexat
- Amoxicillin
- Allopurinol
Verstopfte Nase
Arzneistoffgruppen
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